Herero
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Beschreibung
Kartenland 29.Dezember 1903 (Dienstag): Carl Ettmann glättet mit der linken Hand das Blatt und zieht mit der Rechten die Leselampe näher heran, bis ihr Licht genau auf die Mitte der Landkarte fällt. Das Papier zeigt einen warmen Gelbton, wie sonnenbeschienener Sand. Ein wirres Geflecht feiner schwarzer Linien überzieht die Karte, ein morsches, löcheriges Fischernetz mit zu großen Maschen, das sind die Verkehrswege, Straßen oder Pfade. Von der Küste her windet sich ein kräftigerer Strich ins Binnenland und markiert die einzige Eisenbahnstrecke. Blaßblau gefärbte Adern stellen die Flüsse dar. Von ihnen wiederum verzweigen sich nach allen Seiten feine und feinste Äste und tasten sich durch unzählige Täler und Schluchten in die mit zarter Schraffur in hellbraun markierten Berge und Hochflächen vor. Carl Ettmann ist nicht nur Kartenzeichner, sondern auch Kartenliebhaber, ein 'Gourmet des Cartes, wie es ein Kollege einmal ausgedrückt hat. Das Bild des dargestellten Geländes entsteht ganz plastisch vor seinem geistigen Auge - so wie ihm Handlung, Charaktere oder Umgebung aus den Buchstaben einer Novelle erwachsen. Höhenlinien, Schraffuren oder Farbtöne formen sich für ihn zu Hängen, Hügeln, Tälern und Schluchten. Aus den Signaturen der Bodenbewachsung und aus den Vegetationszeichen wachsen ihm Wälder, Buschgruppen, Sümpfe und Steppe, Weideland und Karst, gangbares und unwegsames Gelände. Ettmann zieht ein zweites Blatt aus der Mappe, faltet es auf und legt es über das erste. In der rechten oberen Ecke steht: Otawi. Das Kartenwerk besteht aus insgesamt acht Blättern und einer Übersicht, denn Deutsch-Südwestafrika ist groß, viel größer als das deutsche Reich. Auf dieser Karte ist das Geflecht der Verkehrslinien und das Geäder der Flüsse viel dünner, kaum besiedeltes, karges Steppenland hat er hier vor Augen und er sieht den Wassermangel, ahnt die Hitze und den Staub. Auf der rechten Seite ist fast ein ganzes Viertel völlig weiß gebheben, entweder Wüste oder Terra incognita, vermutlich beides. Mitten in das weiße Nichts gedruckt steht das Wort O m a h e k e, darunter kleiner und in Klammern: Sandfeld. Eine sonderbare Formation in der Mitte des Blattes zieht seine Aufmerksamkeit auf sich, ein seltsam geformter Berg. Den Formschraffen nach handelt es sich um einen Tafelberg von beträchtlicher Ausdehnung, wohl mehr als vierzig Kilometer lang und an die zwanzig breit. Omuweroumwe-Plateau sagt der Aufdruck, darunter steht, wiederum in Klammern: Waterberg. Das Plateau scheint gänzlich flach zu sein. Zur Vegetation ist auf der Karte nichts angegeben; Ettmann weiß aber, daß in diesen Breiten in der Regel Steppe oder Savannenland vorherrscht. Seine Hand streift über das Papier, der Wanderung der Augen folgend. In der Rechten hält er den Stechzirkel, die feinen Nadelspitzen einen Zentimeter auseinander, 8 km sind das im Maßstab der Karte. Aus der langen, nach Südosten weisenden Steilwand dieses Tafelberges scheint eine Vielzahl von Bächen hervorzufließen, die sich zu vier stärkeren Flüssen vereinigen und endlich in einen großen Strom namens Omatako münden, der sich nach Nordosten in die rechte obere Ecke des Blattes zieht und dieses dort verläßt. Um richtige Flüsse scheint es sich aber nicht zu handeln. Riviere, sagt die Legende am unteren Kartenrand und erklärt: Flußbetten (nur zeitweise, nach heftigem Regen, Wasser führend). Ettmann lehnt sich zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Die Augen brennen ihm ein wenig und der Rücken schmerzt von der gebückten Haltung. Er hört die gedämpften Geräusche des Schiffes, den stetig stampfenden Takt der Maschine, das leise Knarren der Holzverkleidung. Draußen rauscht das Wasser am Rumpf entlang und zischt und poltert dazu. Die Leselampe an ihrem Messingarm zittert. von Seyfried, Gerhard
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Über den Autor
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